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Source: Flash, nr.11, 1972, p.9
Author: Rolf-Ulrich Kaiser

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Tangerine Dream trifft den Moog Synthesizer & Popol Vuh. Rolf Ulrich-Kaiser berichtet über die erste deutsche ‘Supersession’ von zwei der bekanntesten deutschen Popgruppen.
Bei der ersten deutschen ‘Supersession’ trafen sich die Berliner ‘Kosmische Gruppe’ Tangerine Dream und die Münchener ‘Kosmische Gruppe’ Popol Vuh. Innerhalb der Produktion des Doppelalbums ‘Zeit’ von Tangerine Dream spielten sie drei Tage zusammen. Dabei entstand die schönste Seite des Albums - ‘Birth of the liquid plejades’. Während englische und amerikanische Musiker bereits gewohnt sind, auch außerhalb ihrer Gruppen zu spielen, war diese Supersession für die deutsche Popszene ein erstes Experiment. Auch bei der Produktion von ‘Hölderlins Traum’ der Wuppertaler Folkgruppe Hölderlin hatten Musiker andere Gruppen mitgespielt, von ‘Bröselmaschine’und ‘Witthüser & Westrupp’.
Popol Vuh und Tangerine Dream arbeiteten auf eigenen Wunsch fast unter Ausschluß der Öffentlichkeit. Einzige Nicht-musiker: studioingenieur Dieter Dierks und Produzent Rolf-UIlrich Kaiser von der Ohr-Musik-Produktion. Rolf Ulrich Kaiser versucht im Folgenden, seine Beobachtungen aufzuschreiben und so einem zum Teil persönlichen Einblick in den komplizierten Ablauf der insgesamt fast zwei Wochen dauernden ‘Zeit’- Produktion zu geben.
Sie hatten sich vorher nie gesehen. Sie kannten jeder nur die Platte des anderen. Aber als Florian Fricke (Popol Vuh) von Liberty zur Ohr-Musik-Produktion gewechselt war, da war eines seiner Motive, mit den anderen ‘Kosmischen Gruppen’ Ash Ra Tempel und Tangerine Dream zusammen spielen zu können. Und als Edgar Froese (Tangerine Dream) davon hörte, lud er Florian Fricke zu seiner nächsten Produktion ein zur dritten Platte nach dem ‘Album des Jahres’(sounds) ‘Alpha Centauri’ und der ersten LP ‘Electronic Meditation’, zu seinem ersten Doppelalbum ‘Zeit’.
In der Folgezeit verständigten sich Edgar und Florian über ihr gemeinsames Ziel: ‘Schöne Musik zu schaffen. Musik, die sich von den Affekten des Hauses, der Aggression und der Verzweiflung löst und dem Zuhörer Freude und Hoffnung gibt. Musik, die den Menschen zurückholt in den Zustand der Unschuld und den Zusammenklang der kosmischen Harmonie. Zu Möglichkeiten des Menschen, die verschüttet sind. (Mehr darüber bei Oskar Kiss Maerth, Der Anfang war das Ende, Econ Verlag.)

Sie spielten sich

Im Januar trafen sich dann zum erstenmal zwei bekannte deutsche Gruppen in einem Studio, um gemeinsam zu spielen und eine Platte zu produzieren. Es sollte zunächst schwere Arbeit werden für Florian Fricke von Popol Vuh und Edgar Froese, Chris Franke, Hanspeter Baumann und Steve Schroeder von Tangerine Dream.
Denn sie halten keine Partituren und vorgefertigten Kompositionen; sie spielten sich. Um sich und dann miteinander spielen zu können, mußten sie sich kennenlernen und aufeinander hören, einander menschlich und musikalisch voll akzeptieren.
Das ist ein grundlegendes Problem aller Gruppen, die in ihrer Improvisation eine ungefilterte Botschaft vom kosmischen Potential der Schönheit ausdrücken wollen. Schon in den ersten Tagen, noch bevor Florian kam, bestimmte es die Produktion.
In den vergangenen Monaten hatte Tangerine Dream mit Christoph Franke (Synthesizer. Schlagzeug), Hanspeter Baumann (Orgel, Synthesizer) und Edgar Froese (Gitarre) gespielt. Da war kurz vor der Produktion der frühere Organist Steve Schroeder (auf ‘Alpha Centauri’) wieder aufgetaucht. Edgar nahm ihn mit nach Stommeln. Und zunächst mußten sie sich wieder einander gewöhnen, vor allem Hanspeter an Steve, den zweiten Organisten.

Tangerine Dream lernt sich kennen

Nachdem die Instrumente aufgebaut und eingestellt waren, begann Tangerine Dream zunächst einmal, sich selbst kennenzulernen. Sie waren noch auseinander. Die ersten Sessions: Verzweiflung, Ratlosigkeit, Wettstreit, Durcheinander, Rivalität um die Prioritäten. Kennenlernen is anstrengend. Die bisherige Besetzung mußte sich für Steve öffnen, er sich in ihr Bezugssystem hineinfinden.
Am nächsten morgen ist er geschafft. Gleich das erste Stück. 20 Minuten, die weitesten, die ruhigsten des Albums. Das Stück heißt ‘Zeit’. Es ist frei von rivalisierenden Reibereien und von solistischen Ehrgeiz. Zusammenklingen in kosmischer Entfernung. Dann gibt es die erste Unterbrechung. Vier Cellisten, angeführt von Hölderlin-Musiker Jochen von Grumbkow, spielen einige Harmonien, die später von der Gruppe bearbeitet werden.

Tangerine Dream trifft Popol Vuh

Mittlerweile waren Florian und Bettina Fricke von Popol Vuh mit dem Moog Synthesizer eingetroffen. Zunächst hörten sie nur zu. Am nächsten Tag aber begann die ‘Supersession’. Das Problem des ersten Tages wiederholte sich. Während Steve schon früher zur Gruppe gehört hatte und sich nur neu orientieren mußte, trafen sich nun zwei einander persönlich kaum bekannte Gruppen. In das große Studio baute Florian die Kästen des Moog Synthesizers, einer Festung gleich, die Festung seiner eigenen Vorstellungen von Musik.
Zwar haben beide Gruppen das gleiche Ziel vor Augen, zwar arbeiten sie auch beide improvisatorisch, aber dennoch unterscheidet sich die Art und Weise ihres Spielens. Florian Fricke spielt zusammen mit seinem Techniker Frank Fiedler und dem Bongo-spieler Holger Trulzsch zu Hause. Sie treten nicht live in Konzerten auf.
Tangerine Dream dagegen haben seit ihrer Existenz (ca. 1996) immer vor Zuhörern gespielt. Ihre Musik ist maßgeblich durch die Live-Situation des Konzertes, durch Raum, Atmosphäre und Stimmung der Zuhörer geprägt worden. So arbeiten sie auch im Studio.

Denn die Studio-Situation entspricht bei improvisierenden Gruppen weitgehend der Konzertsituation. So mußte sich Florian erst einmal in der für ihn fremden Umgebung zurechtfinden, und so mußte er sich für Menschen öffnen, mit denen er noch keine Musik gemacht hatte. Er stieß auf etwas gänzlich Unbedachtes und Ungeplantes. Tangerine Dream dagegen wartete auf das ganz große Ereignis und übersah die Schwierigkeiten der unterschiedlichen Ausgangspunkte.

Warten auf die Erleuchtung

Der erste Tag der ‘Supersession’: Zunächst ein Abtasten, dann ein langes, langes Warten. Jeder wartet auf den anderen, daß es bei ihm losgeht und er ihn ansteckt. Und nichts geht los.
Die fünf Musiker hatten sich in ihr privates Schneckenhaus verzogen. Die Session glich einem Geplänkel. Florian zum Beispiel beschränkte sich auf einen einzigen, rhythmisch monoton pulsierenden Ton.
Am Abend setzten sie sich zusammen und besprachen den Tag; alle ein wenig unzufrieden, wenngleich sie bald verstanden, daß sie sich nun einmal aneinander gewöhnen mußten. Was war die beste Methode, das zu schaffen?
Florian schlug vor, ein Stück zu konzipieren. Edgar setzte dagegen, sie müßten nur alle aus sich herausgehen. Florian wollte zunächst eine kleine Sicherheit der Orientierung, Edgar das völlige Wagnis. Das Gespräch half weiter. Die nächsten beiden Stücke richteten sich nach beiden Wünschen.

Die ‘Supersession’ findet statt

Der nächste Tag: Weiteres Suchen, ergebnislos. Dann spielt mal wieder die Gruppe allein. Ungeplant, konzeptionslos. Das Wagnis lohnt sich; Tangerine Dream findet das Stück ‘Origin of Supernatural Probabilities’.
Die zweite Seite des Doppelalbum ‘Zeit’ (später als 3. Seite eingeordnet) ist fertig. Alle Beteiligten atmen auf. Am Abend einigen sich Tangerine Dream und Popol Vuh auf das nächste Stück. Schon bei seiner Ankunft war Florian auf die Harmonien der vier Cellisten eingestiegen. Nun möchte er dazu spielen.
Am folgenden Vormittag gelingt das Zusammenspiel. Das Cello-Band (etwa sieben Minuten lang) dienst als konzeptionelle Grundlage, stimmt ein auf die folgende Improvisation. So gesehen schafft es den Kompromiß zwischen Konzeption und Wagnis. Florian setzt die Cello-Harmonien fort, dann steigen die anderen Musiker mit ein.
‘Birth of Liquid Plejades’ ist zwanzig Minuten lang - der seltene Brückenschlag zwischen Musikern, die sich wirklich etwas zu sagen haben. Und zugleich eine andere Art der Session als man sie von den amerikanischen und englischen Starsolisten kennt, die im Grunde nur vorgegebene Arrangements verzieren. Nach schwieriger Arbeit und mancher Minute, in der alles zu zerbrechen scheint, haben Popol Vuh und Tangerine Dream ein Stück geschaffen, von dem sie bei ihrer Fahrt nach Stommeln noch nichts wußten.

Die ‘Supersession’ hat Folgen

Solch ein Prozeß hat Folgen. Er verändert den, der ihn erlebt hat. Er ist eine Fülle von Erfahrungen, die die weitere Arbeit verändern. Die Öffnung der vier Tangerine-Dream-Musiker für Popol Vuh hat sie in ihrem Verhältnis untereinander verändert. Als Popol Vuh abgereist ist, setzen sich Edgar, Christoph, Hanspeter und Steve noch einmal zusammen. An diesem Tag entsteht die Seite ‘Nebulous Dawn’, vielleicht die merkwürdigste Seite des Doppelalbums. Sie scheint sehr rhythmisch und ist doch darüber hinaus.
Sie ist die komplizierste Seite; man muß sie oft hören, um sie zu verstehen. Tangerine Dream hat in sie die ganze Kraft und die ganze Fülle der Studioerfahrungen getan. Die Gruppe war dicht beieinander und ist geradezu in dem Stück aufgegangen. Es ist tief, unmittelbar und dicht.
Die ‘Supersession’ hat Folgen. Popol Vuh hat auf Tangerine Dream über das eine große gemeinsame Zusammenspiel gewirkt. Es hat als Katalysator ihr Verhältnis untereinander beeinflußt. Nun sind sie zusammen als eine Gruppe. Fast kann man sagen: Mit dem Letzten Aufnahmetag (die Mischung war zwei Wochen später) ist der Gruppenprozeß abgeschlossen.